Freitag, 26. Mai 2000

"Die Zwieseler Spinne"

Ich hasse Spinnen. Nichts ekelt mich mehr als in ein Spinnennetz zu greifen oder eines dieser zugegebenermaßen nützlichen Tiere im Haus zu haben. Aber die Zwieseler Spinne, die gefällt sogar mir. Stellen Sie sich Zwiesel als Körper vor: ein Bein nach Norden, das ist Zwiesel-Bayerisch Eisenstein. Eines nach Südosten - Zwiesel-Grafenau. Das nächste nach Nordwesten: Zwiesel-Bodenmais, und das letzte Bein zeigt nach Westen: Zwiesel-Gotteszell. Das ist die Zwieseler Spinne. Zwei der Beine, nämlich die nach Bayerisch Eisenstein und Gotteszell haben wir schon befahren. Heute gilt es, die beiden anderen Beine nach Bodenmais und Grafenau kennenzulernen. Denn was wären Verkehrsfreunde, die nicht alle von Zwiesel ausgehenden Strecken befahren würden. Selbstverständlich muß man bei dieser Streckenanordnung immer wieder zum Ausgangspunkt Zwiesel zurück, um in eine andere Richtung fahren zu können. Wir werden heute als erstes den Streckenast nach Bodenmais befahren, nach Zwiesel zurückkehren, umsteigen und dann nach Grafenau zum Mittagessen fahren.

Der Tag beginnt mit dem Frühstück im Waldpropheten. Heute gibt es keinen Bus, der uns bequem vor der Haustüre abholt - heute wird zum Bahnhof gelaufen. Es geht den Berg herunter - also kein Problem. Die Sonne scheint strahlend vom weiß/blauen Weißwursthimmel, und die freundliche Abfahrtszeit von kurz vor halb zehn tut ein Übriges, unsere Stimmung zu heben. Zu Hause regnet es. Es regnet dort schon seit unserer Abfahrt. Es ist fast unglaublich, aber wir haben offensichtlich die einzige Ecke in Deutschland erwischt, in der die Sonne scheint. Der Wettergott beschenkt uns auch auf dieser Studienfahrt mit dem legendären Verkehrsfreundewetter.

Zwieseler Spinne (49 kb)

Waren wir gestern mit der Wanderbahn durch den Wald gefahren, so werden wir heute Vormittag mit der Waldbahn durch das Wandergebiet des Bayerischen Waldes fahren. Wie es sich für eine Waldbahn gehört, sind die RegioShuttles der Regentalbahn in Teilen grün lackiert und mit der Aufschrift "Waldbahn" versehen. Wir steigen ein und lassen uns in das bekannteste Fremdenverkehrszentrum dieser Region bringen, nach Bodenmais am Fuße des Arbers. Es ist die in Ostbayern zuletzt erbaute Bahnlinie, erst 1928 in Betrieb genommen, und es ist eine bemerkenswerte Strecke, die von zwei imposanten Brückenbauwerken über den Michelsbach und den Schwarzach gekennzeichnet ist.

Der Ort Schwarzach selbst müßte eigentlich ein Pilgerort der Bayern sein, denn hier steht das erste Weißbierbrauereihaus Bayerns. In vielen Kurven geht es durch massenhaft Wald stetig bergauf. Kein Wunder, daß diese Bahn Waldbahn heißt. Es gibt viel zu sehen, entlang der Strecke, touristische Höhepunkte, die man am besten zu Fuß erreicht. An vielen der vorgesehenen Haltepunkte hält der Zug nur dann, wenn entweder Fahrgäste an dem Haltepunkt stehen oder innen der Knopf zum Aussteigen gedrückt worden ist. Zur Stadt Bodenmais fällt die Strecke steil ab. Ursprünglich war eine Weiterführung nach Kötzting geplant, die aber nie verwirklicht worden ist.

Der Bahnhof liegt deshalb am westlichen Ausgang der Stadt; für die Waldbahn heißt das, daß der Ort fast ganz durchfahren werden muß. Die ganze, wunderbare Strecke von Zwiesel nach Bodenmais wird in weniger als zwanzig Minuten bewältigt. Schon eine viertel Stunde nach der Ankunft geht es wieder zurück zum Ausgangspunkt Zwiesel. Die Zeit reicht gerade, um die unmittelbare Umgebung des Bahnhofs zu inspizieren. Und die kann sich wahrlich sehen lassen!

Großzügig ist die Bahnsteigüberdachung angelegt, fast wie ein eigenes Haus mit offenem Dachgebälk. Ein angelegter Park vereint Eisenbahn und Natur auf originelle Weise: Nehmen Sie aus einem langen Schienenstück die Schwellen heraus und füllen Sie den Raum zwischen den beiden Schienensträngen mit klarem Wasser. Dann pflanzen Sie auf der dem Bahnsteig zugewandten Seite dichte, halbhohe Wasserpflanzen, auf der anderen Seite legen Sie einen saftigen Rasen an. Fertig ist das Eisenbahnbiotop. Das sieht super aus. Vor dem Empfangsgebäude und Verkehrsamt ist ein großzügig angelegter Platz, um dessen Springbrunnen Sie viele Bänke zum Warten und Entspannen einladen. Das Plätschern des Brunnens haben Sie beim Betreten des noblen Gebäudes noch im Ohr, da vermischen sich die Wassergeräusche des einen schon mit dem Murmeln des nächsten Brunnens.

Bodenmais (55 kb)

Dieser Brunnen auf der der Stadt zugewandten Seite des Bahnhofes gefällt mir besonders gut. Auf einer Stele stehen drei gußeiserne Personen: Eine Frau, die einen Karren schiebt und ein Paar, das seine Koffer auf diesen Karren auflädt. So stelle ich mir das klassische Bild ehemaligen Gepäcktransports vor. Kompliment an die Architekten des Ensembles, die um den Bahnhof herum Elemente des Bahnbetriebs und der Eisenbahn künstlerisch dargestellt haben. Auch das war damals, als ich das erste Mal hier war, noch nicht so. Auf der selben schönen Strecke fahren wir zurück zum Körper unserer Spinne und sind nach kurzem Aufenthalt in Zwiesel auf dem Weg nach Grafenau. 38 Jahre älter ist diese Strecke, für die man mehr als doppelt so lange braucht wie für den Abschnitt nach Bodenmais. Sie ist auch mehr als doppelt so lang. Wir fahren hier nicht mit einem RegioShuttle, sondern mit zwei altehrwürdigen Triebwagen im Doppelpack: VT 09 und VT 10 bringen uns nach Grafenau. Der Heimatschriftsteller August Sieghardt bezeichnete diese Strecke als "landschaftlich von einmaliger Schönheit". Berühmte Glasmacherorte wie Frauenau und Posching (angeblich die älteste Glashütte der Welt) werden passiert. Vom Schwarzen Regen über den Kleinen Regen, über die Franitz und das größte Trinkwasserreservoir des Bayerischen Waldes schlängelt sich die Strecke hinauf. Auch hier gibt es Wald, Wald und nochmals Wald. Ich müßte Ihnen eigentlich haarklein berichten können, was es an Kapellen, Ortschaften, Glashütten, Bächen, Brücken und herrlicher Landschaft entlang des Weges zu sehen gibt. Aber ich kann es nicht: Das regelmäßige Fahrgeräusch im Planzug, die murmelnden Gesprächsfetzen der sich unterhaltenden Fahrgäste und das Grün der Landschaft vereinen sich und wiegen mich in sanften Schlummer. Bei der Einfahrt in den Bahnhof Grafenau werde ich geweckt und - Gott sei Dank - auch noch viele andere Verkehrsfreunde.

"Da sind sie!" ruft mein Mann, und tatsächlich steht am Bahnhof unser persönliches Begrüßungskomitee in Grafenau. Ein Geschäftskollege ist mit seiner Frau zur Zeit auf Besuch bei seiner Verwandtschaft in Grafenau. Wir hatten ihm vor unserer Abreise den Fahrplan zukommen lassen, aber in Wahrheit nicht so richtig damit gerechnet, daß ein Treffen klappen könnte. Aber nun stehen die beiden am Bahnhof und werden von meinem Mann und mir und weiteren, ihnen bekannten Verkehrsfreunden, herzlich begrüßt. Es gibt gesunden Bärwurz und natürlich viel zu erzählen. Wir sind so mit uns selbst beschäftigt, daß wir nicht bemerken, daß wir den Fotografen im Bild stehen. Das Motiv ist offensichtlich wieder ein Zug vor einem menschenleeren Bahnhofsgebäude.

Grafenau (39 kb)

Fast eine halbe Stunde haben wir Zeit bis zum gemeinsamen Mittagessen, die Triebwagen bleiben dort stehen - es ist eigentlich unverständlich, daß man da nicht ein paar Menschen Zeit läßt, sich zu begrüßen. Immerhin ist es genau das, was auf Bahnhöfen stattfindet: Abschied und Willkommen. Ich habe selbstverständlich Verständnis für die Fotografen und bin auch gebührend zerknirscht, als mir unser Fauxpas auffällt; geärgert haben mich nur die Kommentare, die bei den Fotografen gefallen sind und die mir 'freundliche' Verkehrsfreunde hinterher zugetragen haben. Man kann auch anders miteinander umgehen.

Nach dem wohlschmeckenden Mittagessen in Grafenau fahren wir wieder zurück zum Bauch der Spinne nach Zwiesel, um das dritte Bein nach Bayerisch Eisenstein zu befahren. In umgekehrter Richtung waren wir das Stückchen bei unserer Ankunft nach der Durchfahrt durch die Tschechische Republik bereits gefahren. Aber heute Nachmittag gilt unsere ganze Energie dem Bahnhof Bayerisch Eisenstein, seiner Geschichte und dem Localbahnmuseum.


"Ein Ausflug in die Vergangenheit"

Ein RegioShuttle der Waldbahn lädt uns um kurz vor halb vier in Bayerisch Eisenstein aus, und wir begeben uns direkt zum Localbahnmuseum Bayerisch Eisenstein. Aber schauen Sie auf dem kurzen Fußweg vom Bahnhof zum Museum bitte erst einmal nach rechts vorne. Sehen Sie den großen Berg mit den zwei Türmen, die wie große Ohren aussehen? Das ist der Arber, mit 1456 m der höchste Berg des Böhmerwalds. Daneben der Kleine Arber, der immerhin noch 1384 Höhenmeter aufweisen kann. Wunderschön liegt die Gruppe vor Ihnen, keine Wolke davor, kein Dunst - erhaben und majestätisch, alles überragend. So klar und deutlich sieht man den Arber nur von Bayerisch Eisenstein aus, von der einige Meter über der Stadt gelegenen Straße zwischen dem Bahnhof und dem Museum. Allein für diesen Blick hat sich der Ausflug hierher schon gelohnt. Aber nun müssen wir uns etwas beeilen, um den Anschluß an die Gruppe nicht zu verlieren, denn es ist eine gemeinsame Führung im Museum vorgesehen.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Sperranlagen zwischen der Tschechoslowakei und Westdeutschland auch in Bayerisch Eisenstein errichtet wurden, baute die Bundesbahn die Strecke Zwiesel-Bayerisch Eisenstein zu einer Nebenstrecke zurück. Auf deutschem Boden befanden sich jetzt nur noch die Hälfte des Bahnhofs und das Bahnbetriebswerk, beide im Jahre 1877 errichtet. Bayerisch Eisenstein war von jetzt auf nachher von jedem weiterführenden Zugverkehr abgeschnitten. Man fuhr dorthin und wieder zurück, aber nicht mehr durch.

Hier war das Ende der deutschen Eisenbahnwelt. Die Entwicklung der Stadt litt sehr darunter. Bodenmais und Zwiesel waren bei den Touristen bekannt und beliebt, dort war etwas los, da wurde investiert - Bayerisch Eisenstein mußte sich mit den Individualisten und den Familienurlaubern zufrieden geben, die die Stille der Natur und vor allem das niedrige Preisniveau in der hintersten Ecke Deutschlands zu schätzen wußten.

Bayerisch Eisenstein (40 kb)

Daß die Strecke von Zwiesel hier herauf überhaupt noch betrieben wurde, ist fast schon ein Bundesbahnwunder. Als die Dampfloks verschwanden verkümmerte das Bahnbetriebswerk mit seinem 7gleisigen Rundschuppen zur Bedeutungslosigkeit und wurde 1978 von der Bundesbahn aufgegeben. Wegen der historischen Bedeutung und der einmaligen Innenkonstruktion wurde es unter Denkmalschutz gestellt. Der 1975 gegründete Bayerische Localbahnverein konnte das Gebäude 1981 anmieten und es seit 1993 als Museum der Öffentlichkeit zugänglich machen. Aber wie sah es darin aus! Eingestürzte Dachteile, die herrliche Holzkonstruktion des Daches - sie erinnert an einen umgedrehten, spitzen Schiffsrumpf - war bis zur Unkenntlichkeit geschwärzt. Vom Holz war nichts mehr zu sehen. Einige wenige, diffuse Glühbirnen an der hohen Decke spendeten ein am Boden kaum mehr wahrzunehmendes Licht. Mit ein bißchen Phantasie kann man sich vorstellen, welch reizlosen und anstrengenden Arbeitsplatz die Bahnbeschäftigten 1978 verließen.

Versetzen Sie sich kurz in die fettige und schmutzige Welt des Rußes, des ohrenbetäubenden Lärms der laufenden Maschinen, der stets öligen Kleidung und der nicht mehr sauber zu kriegenden Hände in einem Dampflokbetriebswerk aus dem 19. Jahrhundert, wo die Glut der angeheizten Maschinen die Arbeiter zum Schwitzen bringt und sie im Winter in der ungeheizten Halle frösteln läßt. Und schauen Sie sich das Gebäude jetzt an: grauer, gesäuberter Naturstein außen, davor grüne Rasenanlagen und ein helles und freundliches Inneres.

Die Holzdecke erstrahlt in ihrer natürlichen Farbe; geschickt angebrachte Lampen sorgen dafür, daß Sie sich jedes Ausstellungsstück genau betrachten können. Der Fußboden ist wie geschleckt, und an den weißen Wänden hängen Bilder aus den vergangenen, aber unvergessenen Tagen. Nur wer sich diesen Gegensatz zwischen Gestern und Heute deutlich macht, kann die handwerkliche Leistung ermessen, die die Mitarbeiter des Vereins der Bayerischen Localbahn an diesem Bauwerk vollbracht haben.

Mit einer Hülle allein, auch wenn sie noch so schön ist, ist es aber nicht getan. In einem Museum muß es auch Museumsstücke geben. Wir haben schon oft gesehen, wie manche Lok aussieht, wenn sie aus irgendeinem Vorgarten, wo sie als Kaninchenstall gedient hat, zur Aufarbeitung in begeisterte Hände kommt. Keine Angst: Ich werde Ihnen sicher nicht die Exponate des Museums einzeln beschreiben! Aber hier stehen wirklich zahlreiche Zeugen handwerklicher Instandsetzungsarbeit und begabter Hände. Sehr schön in Szene gesetzt läßt sich zu jedem Stück seine Geschichte erzählen. Diese Arbeit übernimmt unser Führer in der Uniform der Königlich Bayerischen Staatsbahnen. Herrn Kraus gilt an diesem Nachmittag mein ganz persönlicher Dank. Mit seiner lebendigen Erzählweise bringt er den toten Stahl zum Leben, weckt Erinnerungen, erklärt ein Läutewerk und setzt es dann in Gang und berichtet anschaulich von Dreharbeiten mit einem alten 1. Klasse Abteil, das hier im Museum steht. Ab und zu, wenn er eine besonders delikate oder heikle Geschichte zum Besten gibt, schiebt er seine Mütze nach vorne, schaut zu Boden, lacht verschmitzt beim Erzählen, kratzt sich hinten am Kopf, und schiebt die Mütze dann wieder an ihren Platz. Das ist dann das Ende dieser einen Episode. Unser Führer hat viele davon auf Lager.

Er verhilft uns auch zu einer Sonderfahrt besonderer Art: eine Rundfahrt auf der Drehscheibe vor dem Schuppen. Die alte Drehscheibe - ebenfalls vom Verein restauriert - dient heute ausnahmsweise zur Personenbeförderung. Wer noch bei der Führung dabei ist, stellt sich drauf und los geht's! Einmal rundherum im Kreis herum. Lachen Sie bitte nicht! Ich finde es nur gut. Bei den vielen, vielen Aktivitäten, die mir die Verkehrsfreunde Stuttgart schon geboten haben, war noch niemals eine Drehscheibenfahrt dabei. Premiere, nicht nur für mich. Eine traurige Premiere ist allerdings die Tatsache, daß wir das erste Opfer einer Sonderfahrt zu beklagen haben: Auf der Führungsschiene der Drehscheibe sitzt ein Frosch, der einfach nicht glauben will, daß ihn in wenigen Sekunden an dieser Stelle das Unvermeidliche ereilen wird - es bleibt ihm keine Zeit mehr, seinen Irrtum zu erkennen.

E 69 05 (35 kb) Nach dieser originellen Kreisfahrt gehe ich wieder ins Innere des Museums und verabschiede mich mit einem letzten Blick von der oberen Galerie aus, von der man einen umfassenden Blick auf alle Ausstellungsstücke hat. Falls Sie nicht dabei waren und falls Sie einmal nach Bayerisch Eisenstein kommen - gönnen Sie sich einen Abstecher ins Localbahnmuseum. Es wird - es muß Ihnen einfach gefallen!

Im Laufe der Jahre, die wir schon gemeinsam mit den Verkehrsfreunde Stuttgart unterwegs waren, haben wir viele Bahnhöfe kennengelernt, die in einer Zeit gebaut worden sind, in der die Eisenbahn etwas Neues und Modernes war, in der wegen und mit der Eisenbahn Städte entstanden und der Handel blühte. Heute erscheinen uns diese Bahnhöfe monumental und überdimensioniert. Aber zu ihrer Zeit war ihre Größe durchaus ihrer verkehrstechnischen Bedeutung angemessen. Zu diesen ehemals 'großen' Bahnhöfen gehörte auch der Bahnhof Bayerisch Eisenstein. Als er 1877 gebaut wurde, war die Eisenbahn gerade geboren - sie führte ein neues Zeitalter an.

Bayerisch Eisenstein war damals das Verbindungsstück zwischen der Österreichischen K+K Monarchie in Böhmen und dem Königreich Bayern. Ein Gemeinschaftsbahnhof wurde gebaut. In der Mitte ein gemeinsames Empfangsgebäude und rechts und links davon - also nach Böhmen und Bayern - jeweils ein längerer, flacherer Gebäudeanbau. Die Anbauten wurden nur von den jeweiligen Ländern genutzt, der Mittelbau von beiden gemeinsam. Um die Grenze zwischen den Ländern zu demonstrieren, war diagonal durch diesen quadratischen Raum eine weiße Linie gezogen worden. Jedes Land hatte also ein Dreieck des Quadrats unter seiner Herrschaft. Der Zugverkehr zwischen Bayerisch und Böhmisch Eisenstein verlief reibungslos. Das Arrangement ging gut, bis der Zweite Weltkrieg ihm ein unrühmliches Ende bereitete.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges schottete sich die Tschechoslowakei ab, Zäune verhinderten einen weiteren Zugverkehr, der gemeinschaftliche Mittelbau des Bahnhofs wurde geschlossen und ebenso wie sein böhmischer Anbau dem Verfall preisgegeben. Auf bayerischer Seite war eine Bahnhofswirtschaft beheimatet und ist es bis heute. Noch immer kann man ihre originale Jugendstileinrichtung bewundern. Die Gaststätte ist sehenswert, quasi ein musealer Gasthof. Als ich vor der Wende einmal hier war, haben mich die für den Bayerischen Wald völlig überzogenen Preise des Lokals abgeschreckt, das damals böhmische Küche anbot. Aber ein Pilsner Urquell vom Faß war allemal drin. Der Wirt hatte damals schmunzelnd behauptet, eine unterirdische Pipeline direkt nach Pilsen zu unterhalten.

Bayer. Eisenstein mit Arber (31 kb)
Heute, wo die Sperranlagen verschwunden sind, wo man wieder mit dem Zug zwar nicht durchfahren, aber doch wenigstens mit Umsteigen am selben Bahnsteig planmäßig nach oder von Tschechien von oder nach Bayern gelangen kann, haben sich auch die Preise des Restaurants normalisiert. Es ist Ehrensache, hier nach der Besichtigung des Localbahnmuseums einen Kaffee oder ein Bier zu trinken, die Einrichtung zu bewundern und an alte Zeiten zu denken, die einerseits leider, andererseits Gott sei Dank vorbei sind - je nach dem, wie lange sie her sind. Den umtriebigen Wirt des Bahnhofrestaurants hatten wir gestern schon auf unseren heutigen Besuch vorbereitet; eine zusätzliche Bedienung hilft ihm heute, die Wünsche der Verkehrsfreunde zu erfüllen, die sich auf der Terrasse in der Sonne räkeln. Nachdem erst kurz vor Beginn unserer Studienfahrt ein ausführlicher Bericht über Bayerisch Eisenstein und seinen Bahnhof in der Sendung "Eisenbahnromantik" gesendet worden ist, genießen noch mehr Gäste die nostalgische Atmosphäre.
An diesem, unserem letzten gemeinsamen Abend greift auch Herr Blaschke noch einmal zum Mikrofon, um seine zweite Rede zu halten. Sie erinnern sich: Bei mehr als drei Übernachtungen haben wir Anspruch auf zwei Reden. Amüsant zieht er Bilanz der Studienfahrt, die morgen zu Ende gehen wird und bedankt sich nochmals für die unglaubliche Arbeit und den Einsatz aller Organisatoren. Sein Dank gilt sehr herzlich allen beteiligten Verkehrsbetrieben. Ein schönes Kompliment macht Herr Blaschke allen Verkehrsfreunden: Die letzten Tage hätten gezeigt, daß wir eine Truppe seien, die nichts so schnell aus der Ruhe bringen könnte und die auch mit Unvorhergesehenem fertig würde. So eine Gruppe brauche man, wenn man heutzutage Bahn fahren wolle! Herr Blaschkes Ansprache ist das Ende des offiziellen Teils des heutigen Abends. Demnächst kommt der Bus, der uns wieder zum Chrysantihof bringen soll. Ohne mich! Neun Uhr abends, letzter Abend, keine Bar im Hotel, noch nicht müde - kommt ja gar nicht in Frage, daß ich da schon heim gehe, gesundes Bayern hin oder her!

Per Handy unterrichten wir den Wirt der 1. Dampfbierbrauerei Zwiesel davon, daß wir mit einer größeren Gruppe anrücken und machen uns auf den Weg in die Stadtmitte. Circa 15 Verkehrsfreunde finden sich zusammen und statten unserem fidelen Wirt einen Besuch ab. Weil auch neue Gäste dabei sind, funktioniert der Trick mit dem Scherzglas wieder, und kleine Biere gibt es wieder nur für die Damen. Heute abend lernen wir auch einen weiteren Beruf des Wirts kennen: Bagger; am Nebentisch sitzt eine lustige Runde Frauen ohne Männerbegleitung.

Zu Fuß (!) kehren wir in unsere Unterkunft hoch droben auf dem Berg zurück und machen uns über den Getränkeautomat im Kellergeschoß des Hauses her. Ein Verkehrsfreund stellt sein Zimmer zur Verfügung, und so findet doch noch im Chrysantihof ein kleiner, gemütlicher Barbetrieb statt.

Dieser Tag, der so harmlos mit den Planzugfahrten mit der Waldbahn begonnen hatte, hat sich von Stunde zu Stunde gesteigert. Viel haben wir im Museum gesehen und gelernt, und viel sind wir dort gelaufen, wenn auch nicht gewandert. Und dann der Abend: die Verdauungsspaziergänge begannen schon während des Essens, wir hatten Musik, Gespräche und optische Genüsse bei den Vorführungen der Glasbläser. Wegen der anderen Note - Sie wissen schon - müssen wir irgendwann mal den Wirt fragen. Vielleicht hat er in seinem neuen Beruf ja Erfolg.

| Dienstag, 23. Mai 2000 | zurück |